Kommentar: Art. 79 III Grundgesetz – Garant für demokratischen Rechtsstaat Deutschland?
100 Jahre Weimarer Verfassung – 70 Jahre Grundgesetz – Doppeljubiläum. Aber plus gegenwärtige Neigung zu Extremismus. Wissen die Menschen überhaupt, welch kostbarer und hart errungener Schatz das GG oder überhaupt die demokratische rechtsstaatliche Verfassung in Deutschland ist?
Vor 100 Jahren trat am 14.8.1919 mit Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt die erste demokratische Verfassung Deutschlands (Weimarer Verfassung, WRV) in Kraft. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus. Die Volksvertretung wird in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen deutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. Vorrechte des Adels bestehen nicht mehr. Elementare Bürgerrechte werden eingeräumt (Gleichheit von Männern und Frauen vor dem Gesetz, unverletzliche Freiheit der Person, Freiheit zur Äußerung der Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise, Glaubens- und Gewissens-Freiheit, Schutz des Familienlebens, u. a.). Durch die Unabhängigkeit der Richter mit Unterwerfung nur gegenüber dem Gesetz, die erstmalige Ausübung der Gesetzgebung durch den Reichstag und deren Kontrolle der Exekutive wird die Gewaltenteilung manifestiert. Im Fall eines Misstrauensvotums konnte jedoch der Reichspräsident nach Art. 48 II WRV bei erheblicher Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die zu deren Wiederherstellung nötigen Maßnahmen zu treffen. Hierbei war er auch berechtigt, festgesetzte Grundrechte vorübergehend außer Kraft zu setzen, und in der Lage, die Funktion eines nicht beschränkten Ersatzgesetzgebers wahrzunehmen. Leider blieb bei der Verfassungsarbeit der Nationalversammlung zur WRV die warnende Stimme bereits am 28.2.2019 des Abgeordneten Richard Fischer wegen zu weitreichender Kompetenzen des Staatsoberhaupts ungehört, dass „eines Tages ein anderer Mann, aus einer anderen Partei, vielleicht sogar aus einer reaktionären, staatsstreichlüsternen Partei an dieser Stelle stehen wird“ und die Verfassung gegen ihren Sinn verwenden könne (Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 326, stenografische Berichte, Berlin 1920, S. 374; zitiert nach: Die Weimarer Reichsverfassung vom 11.8.1919, Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit 1/2019, S. 42, 46). Die aus dem Missbrauch der vorbezeichneten Verfassungsnorm eingetretenen negativen Folgen des dunklen Kapitels 1933-1945 sind bekannt.
Das vor 70 Jahren am 23.5.1949 ausgefertigte und verkündete Grundgesetz (GG) für die Bundesrepublik Deutschland, in Kraft getreten am 24. Mai, hat aus der WRV lernend (5-%-Klausel, konstruktives Misstrauensvotum, begrenzte Kompetenzen des Bundespräsidenten, u. a.) eine feste Basis in Art. 79 III GG begründet, deren Änderung ausgeschlossen ist. So bedürfen das GG ändernde Gesetze der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestags und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrats nach Art. 79 II GG. Aufgrund Art. 79 III GG ist jedoch eine Änderung des GG unzulässig, durch die die Gliederung des Bundes in Länder, deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Bundesländer mit einem Mindestmaß an Eigenständigkeit müssen fortbestehen. Die für unantastbar erklärte Menschenwürde (Art. 1 I 1 GG) zusammen mit anderen Grundrechten, deren normative Wirkungen sich aus dem Menschenwürdegehalt ergeben (Grundsatz der Rechtsgleichheit, Willkürverbot, Mindestbestand an Grundrechten in den Bereichen personaler Autonomie, demokratischer Willensbildung und justizstaatlicher Garantien) und die in Art. 20 I GG enthaltenen Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzipien sind keiner gesetzlichen Änderung zugänglich (allg. zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und Rechtsliteratur Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 15. Auflage, München 2018, Art. 79 GG).
Der Bundesgesetzgeber hat 62 ändernde Gesetze bezogen auf das GG für die Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum seit August 1951 bis Juli 2017 unter Wahrung – des Bundesstaatsprinzips als entscheidender Maßstab für die verfassungsändernde Gewalt (Finanzausgleich und Verteilung des Steueraufkommens, Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern, Finanzhilfen Länder Gemeinschaftsaufgaben; Mitwirkung Bund bei Länderaufgaben; ausschließliche/konkurrierende Gesetzgebung; Rechts- und Amtshilfe; u. a.), – der Bestandsgarantie als Kern der Grundrechte (Vereinigungsfreiheit, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Dienstverpflichtungen, Wahl, Petitions-recht, Asylrecht, Unverletzlichkeit der Wohnung; u. a.), – des Kerngehalts des republikanischen Prinzips und der Kernbereiche vollziehende Gewalt in Abhängigkeit von der rechtsprechenden Gewalt (Rechtsprechung Bund/Länder; Bundesverfassungsgericht Zuständigkeit und Zusammensetzung; Gesetzesvorlagen; Parteien; Wahlperiode; parlamentarisches Kontrollgremium; u. a.) erlassen (allg. dazu Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Bd. V, Art. 79, Lieferung 11/2018, Rn. 158 ff., 109 ff., 115, 147 ff.)
Das Bonner GG präsentiert sich in seiner Entwicklung nunmehr seit sieben Jahrzehnten unter Beibehaltung der Kernnormen und vom Verfassungsgeber gesetzten Bestandsgarantien als lebendige Grundlage, bereit zu Modifizierung und Anpassung im Hinblick auf die Verfassungswirklichkeit in dynamischer Auseinandersetzung. So wurde auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die Schutzverpflichtung des Staates betreffend die natürlichen Lebensgrundlagen und Tiere mit den ändernden Gesetzen (42. und 50. ÄndG) vom 27.10.1994/26.7.2002 in Art. 20 a GG aufgenommen. Das Asylrecht für politisch Verfolgte findet sich in Art. 16 a GG (39. ÄndG vom 28.6.1993). In Art. 45 d GG wird die Bestellung eines Gremiums durch den Bundestag zur Kontrolle der nachrichtendienstlichen Tätigkeit des Bundes statuiert (55. ÄndG vom 17.7.2009). Das Zusammenwirken von Bund und Ländern im Bereich IT-Systeme ist in Art. 91 c GG (57. und 62. ÄndG vom 29.7.2009/13.7.2017), in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Lehre und Bildungswesen in Art. 91 b GG (21., 52., 60. ÄndG vom 12.5.1969/28.8.2006/23.12.2014) Gegenstand. U. a. die auf verfassungsimmanenter Basis in Art. 79 III GG verankerte Gliederung des Bundes in Länder, deren grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung und die in den Artikeln 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze sind auch in den kommenden Jahrzehnten bei jeglichen Änderungen und Erweiterungen der Verfassung prägender Maßstab, der Neigungen zu Extremismus keine Chance gibt, vielmehr solchen a priori eine klare Absage erteilt.
• Dr. Fidelio Unger, 5.8.2019