Wunschlos – Würdelos

Ein Kommentar zum Suizid-Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Kommentar von Dr. Unger, Fidelio in Titelschutzjournal Nr. 12, S.5, 17.03.2020

0.12.2015: Der Bundesgesetzgeber hat das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung eingeführt (§ 217 Strafgesetzbuch (StGB): „(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahe steht.“ 26.02.2020: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheidet in seinem Urteil (Az.: 2 BvR 2347/15, u. a.), die Vorschrift in 217 StGB sei mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Grundgesetz)) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. (Leitsatz 1.a)). Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung in § 217 Abs. 1 StGB verengt die Möglichkeiten einer assistierten Selbsttötung in einem solchen Umfang, dass dem Einzelnen faktisch kein Raum zur Wahrnehmung seiner verfassungsrechtlich geschützten Freiheit verbleibt. (Leitsatz 5).“

Die jedem Menschen zukommende unantastbare Würde enthält zwar ein Recht auf Selbstbestimmung. Diese aber impliziert kein absolutes Verfügungsrecht über das eigene Leben. Auch Menschen, die nicht (mehr) zur Selbstbestimmung fähig sind, tragen diese Würde. Eine Selbsttötung entzöge der Menschenwürde ihre „vitale Basis“, sodass sie in deren Garantie keine rechtliche Grundlage hat. Ein Recht auf geschäftsmäßige Suizidhilfe besteht nicht (Urteil BVerfG Rdn. 147 f., zu Stellungnahme christliche Religionsgemeinschaften). Das menschliche Leben ist eine gottgegebene Leihgabe, für die der Einzelne verantwortungsvoll Sorge trägt. Hieraus folgt die Unzulässigkeit jeder Form der Suizidhilfe (Urteil, Rdn. 149, zu Auffassung Zentralrat der Juden in Deutschland). Die Aufgabe pflegender Berufe richtet sich darauf, Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen und Leiden zu lindern. Eine geschäftsmäßige Suizidhilfe wird abgelehnt (Urteil, Rdn. 152, zu Ausführung deutscher Berufsverband für Pflegeberufe e. V.). Die Annahme des BVerfG (Urteil, Rdn. 211) mangelt an Überzeugungskraft, das Recht, sich selbst zu töten, könne nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begebe, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbst-bestimmung und damit seine Subjektstellung aufgebe. Geradezu grotesk die Feststellung des Gerichts (Urteil, Daselbst) zum Höhepunkt der Menschenwürde durch Suizid: „Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde.“

Die vom 2. Senat des BVerfG genannten Prüfungsparameter (Urteil, Rdn. 210 f., 241) sind nicht konkret bestimmbar sondern dehnbar, der freie Wille wird wie ein Fetisch dargestellt (z. B. „eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende“, „entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen“, „(e)r gibt sein Leben als Person selbstbestimmt und nach eigener Zielsetzung auf“,“„wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbst gesetzten Maßstäben bestimmen kann“, „(e)ine freie Suizidentscheidung setzt hiernach zunächst die Fähigkeit voraus, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung bilden und nach dieser Einsicht handeln zu können“, u. a.). Die Parameter sind bei den Suizidgefährdeten nicht erfüllt. Die vom 2. Senat angehörten sachkundigen Dritten weisen auf empirische Daten, dass bei 80-90 % von Betroffenen, denen die Selbsttötung misslungen ist, in Nachhinein ihre Suizidentschlüsse als Fehlentscheidung gewertet und revidiert wurden (Urteil, Rdn. 244). Wären die Versuche nicht fehlgeschlagen, wäre eine Wertung als Fehlentscheidung nicht mehr möglich. Was sollen unbestimmte Prüfungskriterien von einer gewissen „Dauerhaftigkeit“ und „inneren Festigkeit“?! Bemerkenswert auch der gerichtliche Hinweis (Urteil, Rdn. 245) auf Ausführungen der sachkundigen Dritten zu weltweit durchgeführten empirischen Untersuchungen bezogen auf 90 % der tödlichen Suizidhandlungen (psychische Störungen), also keine „freien Suizidentscheidungen“. Diese Fakten rechtfertigen nicht nur den legitimen Zweck des Gesetzgebers, sondern belegen auch die Angemessenheit betreffend die Gesetzes­norm in § 217 StGB.

Die Gefahr geschäftsmäßiger Suizidhilfe, die sich als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen durchsetzt, wird vom BVerfG zwar als plausibel zur Kenntnis genommen (Urteil, Ren. 248 f.). Den erheblichen Zuwachsraten von Suizidfällen nach Zulassung geschäftsmäßiger Förderung der Selbsttötung in der Schweiz (2-fach in den Jahren 2009-2014), in den Niederlanden (3-fach von 1882 Fällen im Jahr 2002 auf 6091 Fälle im Jahr 2016, Belgien (8-fach von 259 Fällen in den Jahren 2002/2003 auf 2022 Fälle im Jahr 2015) wird seitens des Gerichts jedoch keine ernsthafte Bedeutung zugemessen, da die Frage handlungsleitender Wirkung von gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen unterhalb der Schwelle von Zwang, Täuschung und Drohung auf eine Suizidentscheidung sich bislang wissenschaftlicher und empirischer Erfassung entziehe (Urteil, Rdn. 259). Gerade ältere Personen können sich jedoch nicht der Sorge, anderen, insbesondere Angehörigen, Freunden, Pflegern zur Last zu fallen, verschließen – ein wichtiger Beweggrund für Zustimmung zum Suizid, wie Untersuchungen im US-Bundesstaat Oregon (55,2 % Grundangabe für assistierten Suizid in 1917) und des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité (Universitätsmedizin Berlin) bestätigen (dazu BVerfG, Rdn. 257 f.).

Möglicherweise haben die Richter des BVerf G noch nie einen todkranken Menschen vor sich gesehen. Der sucht nach Zuwendung, nicht nach Suizidhilfe. Der Gesetzgeber ist daher anzuhalten, dass eine flächendeckende Palliativversorgung realisiert wird, die mit adäquaten Haushaltsmitteln von Bund und Ländern ausgestattet eine intensive öffentliche Auseinandersetzung mit Fragen von Krankheit, Sterben und Tod, die Verbesserung der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Gesundheitsberufe im Bereich der Begleitung Schwerkranker und Sterbender und den bedarfsdeckenden Ausbau palliativmedizinischer Versorgung sicherstellt. Diese Begleitung steht diametral zu einer gegen den menschlichen Organismus gerichteten Hilfe zur Selbsttötung (dazu BVerfG, Rdn. 287, 111, 159). Die Autonomie des Menschen wird im Urteil als absolut gesetzt. Lebensmut und Glück erreicht der Mensch aber nicht in Autonomie, sondern in der Beziehung. • Dr. Fidelio Unger, 10.03.2020